Fortschrittliche Toilettenkultur in Nordkirchen

Moderner als das Schloss Versailles

NORDKIRCHEN. Wer einmal eine Führung durch die Prunkgemächer von Schloss Versailles mitgemacht hat, wird auch einiges über die Kehrseite dieser ungeheuren Prachtentfaltung erfahren haben.

Durch König Ludwig XIV. (1638-1715) von einem Jagdschloss zu einer eleganten Residenz ausgebaut, verbreitete dieser Hof zwar seinen Glanz über ganz Europa, kümmerlich aber waren dort die sanitären Anlagen. Zwar waren Aborte schon im Mittelalter durch die Klöster nördlich der Alpen bekannt, aber im Schloss von Versailles gab es keine solche Einrichtung. Dem König wurde bei Bedarf ein „Leibstuhl“ zugetragen, von dem er ungeniert bei festlichen Soupers und Audienzen Gebrauch machte. Die beinahe 3000 Menschen – Adelsfamilien, Höflinge, Diener und Mägde – mussten den Park aufsuchen, um dort ihre Notdurft zu erledigen. Auch Kamine wurden zweckentfremdet genutzt.

In dieser Beziehung zeigte sich 40 Jahre später der Hauptmann und Ingenieur Gottfried Laurenz Pictorius, der mit der Errichtung der neuen Schlossanlage von Nordkirchen beauftragt war, dem berühmten Architekten der Königsresidenz Versailles Louis Le Vau gegenüber bei weitem überlegen.

Schon bei den ganz frühen Plänen waren in Nordkirchen überall Toiletten eingezeichnet – im Ostflügel, dem Wohnbereich der adeligen Familie, im Westflügel, der den Gästen vorbehalten war, und selbstverständlich im Hauptflügel für den Jupitersaal, den Speisesaal und für das Kaiserzimmer, wo Kaiser Karl VI. (1685-1740) und der spätere Kaiser Franz (1708-1765) bei ihren Besuchen in Nordkirchen, wie man sagt, „zu Fuß“ hingingen. Der Keller war mit Örtchen für die Dienerschaft und die obere Etage für die Kinder und deren Zofen ausgestattet.

Wasser zum Nachspülen

Dabei handelte es sich um Kabinette, in denen ein Holzkasten mit Deckel angebracht war. In Gefäßen bereitgestelltes Wasser, das zum Nachspülen verwand wurde, bewirkte eine Entsorgung der Fäkalien durch Schächte. Diese stießen, wie man 1998 bei einem Rohrbruch im Ostflügel des Schlosses entdeckte, in einen Fäkalientunnel, der mit einem berechneten Gefälle 50 Zentimeter unterhalb des Wasserspiegels in die Gräfte mündet. Das Wasser der Gräften war nicht hygienisch, aber durch die Entsorgung unterhalb des gleich bleibenden Wasserspiegels völlig geruchsfrei, wie Gerhard Rengshausen, Finanzbauamt, zu berichten wusste.